Dienstag, 7. Oktober 2014

Im Land der Blinden

Diese Woche war ich schon wieder auf Stippvisite in Deutschland, und zwar diesmal im schönen Marburg. Ich habe lange mit mir gerungen, ob um das "schön" Anführungszeichen gehören und mich mit mir darauf geeinigt, dass ich sie weglasse, um sie im nächsten Satz zu setzen.

Das offizielle Wikipedia-Foto der Kirche
Marburg ist eine der zwiespältigsten Städte, die ich – zumindest in Deutschland – kenne. Mit rund 70.000 Einwohnern nicht gerade klein, wirkt sie trotzdem von der Bahn kommend fast schon winzig und ausgesprochen provinziell. (Und bevor jetzt irgendein zufälliger Internetpassant mich für gemein oder respektlos hält: das sind für mich keineswegs negative Attribute). Und ein bisschen heruntergekommen. (Okay, das ist negativ). Nach einer Stunde in der Stadt merkt man aber, dass hier, wie so oft, einfach das Bahnhofsviertel einen denkbar schlechten ersten Eindruck vermittelt. Man muss durch (und manchmal über oder unter) typisch deutsche Bau- und Städteplanungssünden wie eine an der Lahn entlanglaufende Landstraße auf zwei Ebenen und eine Niedrigpreis-Einkaufsstraße mit Shopping-Highlights wie Woolworth's und NKD. Ist man erst einmal an der Elisabethkirche vorbei – die ich tatsächlich ganz richtig als frühgotisch erkannt habe, was meine Kunstlehrer mit Stolz erfüllen sollte – und nähert sich dem alten Stadtkern, wird es langsam besser.

Was nicht heißen soll, dass es dann nicht auch noch ganz schön große Kontraste gäbe. Ich bin im "Marburger Hof" untergekommen, allem Anschein nach einem der Traditionshäuser in der Stadt und auch ein wirklich schönes Hotel. Freitag Nachmittag bin ich für eine Pause gegen fünf auf dem Zimmer gewesen und hatte kurz zum Lüften das Fenster offen. Aufgestanden um es zu schließen bin ich es wegen des ohrenbetäubenden Motorenlärms, wegen dem ich dann auch glotzend stehengeblieben bin und den Carrera GT bestaunt habe, der sich ungeduldig durch die Unterstadt geschlichen hat. Als das Röhren einer Blech gewordenen halben Million Euro leiser wurde, konnte ich dann auch endlich das in die urbane Wüste passende Würgen des kotzenden Einheimischen unter meinem Fenster hören.

Nochmal Wikipedia - ich war zu faul zum Knippsen
Wie viele Städte, die vom Krieg weitgehend verschont geblieben sind, hat Marburg eben das Problem, dass die hässlichen Ecken, von den billigen Bauhaus-Epigonen bis zu den schlecht renovierten Einfamilienhäusern, vor einer Kulisse aus Fachwerk und Gotik einfach viel schlimmer aussehen als für sich allein genommen. Das umgekehrte stimmt natürlich genauso: wenn man von den Flachbauten der neuen Uni zu den ursprünglichen Gebäuden aus dem 16. Jahrhundert kommt, verschlägt es einem ziemlich den Atem. Von außen sieht es aus wie Hogwarts, von innen ein bisschen getäfelter und bemalter, aber deshalb nicht weniger altertümlich. Für alle Saarbrücker: die alte Aula in Marburg ist wie der Festsaal des Rathauses St. Johann, nur dreimal so groß und doppelt so hoch. „Tempel des Wissens“ ist für so einen Ort keine Übertreibung.

Das richtig Zwiespältige an der Stadt ist aber ein Detail, das in die Kategorie „wenn es einen Gott gibt, hat er einen Sinn für Zynismus“ gehört. Zwischen dem bunten Gebäudesalat und den amerikanischen Touristen in Dirndl und Lederhosen (ja, manchmal gleichzeitig) sieht man mehr Blinde als irgendwo sonst. Was einem zuerst noch als Zufall, dann als Einbildung und schließlich als (je nach Weltanschauung) böses Omen oder Fingerzeig Gottes erscheinen mag, resultiert einfach nur daraus, dass es in Marburg mit der Deutschen Blindenstudienanstalt hier die besten Bildungsmöglichkeiten für Menschen mit Sehbehinderung gibt. Man sollte das vorher aber wirklich wissen, denn sonst irritiert einen das schon, und man muss vielleicht als literarisch gebildeter Mensch die ganze Zeit an H.G. Wells denken.

Die Tagung, zu der ich in der Stadt war, fand ich persönlich einigermaßen durchwachsen was die fachliche Seite anging, aber ich war auch nicht so ganz das einschlägige Publikum und mag auch Pech gehabt haben was die Auswahl der Vorträge anging. Menschlich hingegen waren es ein paar großartige Tage, während der ich nicht nur ganz professionell „Kontakte gepflegt,“ sondern sogar neue Freunde gefunden habe. Und das passiert einem wirklich nicht so oft in meinem Alter ...

Und dabei hatte alles so vielversprechend übel angefangen. Nicht nur musste ich mich um 4 aus dem Bett schälen, um pünktlich für den frühen Flug nach Berlin zu sein, Kopenhagen hat mal wieder alle seine Greatest Hits aufgefahren, von den Mittfünfzigern, die am Bahnhof morgens um 5 zum Auftakt ihres Ausflugs schon einen Aquavit nach dem anderen zischen, bis hin zu den jungen und reichen, die sich eine Fahrt zum Oktoberfest organisieren lassen, identische Lederhosen inklusive.

Und dann wurde auch noch mein Flug annulliert, ohne Angaben von Gründen oder eine Entschuldigung. Okay, ich habe einen Verzehrgutschein bekommen, mit dem ich mit später einen ganzen Muffin und ein halbes Wasser kaufen konnte, und man hat mich auf den nächsten Flug gebucht, aber trotzdem habe ich ausgerechnet zwei der interessantesten Vorträge von zwei der nettesten Kolleginnen verpasst. Das hat mir für den Rest der Tagung dann zwar Gleichmut gegeben, aber wir sprechen uns noch, Air Berlin!


1 Kommentar:

  1. Ich mag Marburg, auch wenn die Kombination aus Einkaufscenter-Bausünden vor historischer Architektur wirklich gewöhnungsbedürftig ist. Zwei persönliche Empfehlungen: 1. für die lesenden Leser dieses Blogs: Buchhandlung Roter Stern – klein, aber eine wunderbare, gezielte und anspruchsvolle Auswahl; 2. Cafe am Grün – direkt neben/hinter der Buchhandlung, alternativ, studentisch, entspannt und lecker.
    Sylvia

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