Samstag, 16. März 2013

Zwischen Kopenhagen und Gotham, Teil 3

Hajos Superhelden-Top Ten (fünfter bis erster Platz)

 

Platz 5


Frank Miller: The Dark Knight Returns (DC, 1986)

Wie habe ich ihn damals gehasst. Das Cover hat mich magisch angezogen – der Band war ja auch in Deutschland omnipräsentes Aushängeschild der großangelegten Kampagne "Comics heißen jetzt Graphic Novels und stehen in ordentlichen Buchhandlungen." Die ersten fünf oder zehn Mal habe ich das Buch aufgeschlagen, schnell wieder zugeklappt und dann eine Woche Alpträume gehabt. Was Frank Miller hier mit Batman anstellt, ist schlimmer als jede körperliche oder geistige Folter die sich andere Autoren je ausgedacht haben: Er entblößt ihn bis in die letzte Faser und legt damit, wie Dietmar Dath es mal so schön gesagt hat, auf frei, was wir eigentlich sein wollen. Batman als dreckiger alter Mann in Panels, die wie mit Textmarkern kolorierte Umrisse aus hingeworfenen Mikadostäbchen wirken – das war lange Zeit zu viel für mich. Aber auch wenn DC immer wieder versucht, eine gute alte (und damit hoffnungslos vergangenheitsblinde) Zeit aus der Mottenkiste zu holen, indem Superman in Jeans oder neuem Spandex aus der Telefonzelle geschickt wird – The Dark Knight Returns ist, was deutsche Intellektuelle gern mit dem Wort 'unhintergehbar' beschreiben: ein Text, der gezeigt hat, wie hässlich Superhelden eigentlich ohne Leni-Riefenstahl-Ästhetik wären und wie man aus einem erwachsen gemachten Crossover von A-Liga-Superhelden mehr machen kann als dreißig Splashpages mit Klopperei. Denn wenn sich beim Showdown zwischen Batman und Superman fünfzig Jahre Hassliebe entladen, hat das nichts elegantes, schönes, erhabenes. Und trotzdem – oder deswegen – bringen diese paar Seiten die Schizophrenie des Superheldenkonzepts besser auf den Punkt als ganze Jahrgänge und Serien. Dass Superman der blauäugige Lakai eines korrupten, kapitalistischen Systems ist, wussten wir vorher schon, doch Miller macht überdeutlich, dass die Alternative eben nur Bruce Wayne sein kann, ein im Kopf schon immer verknöcherter Übermensch mit der Seele eines Achtjährigen, der sich selbst etwas nicht verzeihen kann, woran er keine Schuld trägt. Wenn es in den gewöhnlichen Crossovers darum geht, uns die ganze Palette eines Superheldenuniversums aufzufächern, damit wir uns die passende Identifikationsfigur aussuchen können, zwingt uns The Dark Knight Returns die Frage auf, wer uns mehr Angst macht: der unbezwingbare Außerirdische, dessen Körper ihn selbst zur Wunderwaffe macht, oder der gewöhnliche Sterbliche, der nichts mehr zu verlieren hat und jederzeit bereit ist, für seine Ideale sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.

Nein, ich mag dieses Buch noch immer nicht, aber ich bewundere es in vielerlei Hinsicht. Es ist der hässliche, unsubtile Klassiker.     

Platz 4


Brian K. Vaughan/Tony Harris: Ex Machina (Wildstorm, 2004-2010)

Ex Machina hat den vielleicht unbeholfensten, uncoolsten Superhelden aller Zeiten. (Und nein, ich vergesse weder das Pickelgesicht in Kick-Ass noch den irren Burgerbräter in Super). Mitchell Hundred ist ein Bauingenieur, dem ein außerirdisches Artefakt Macht über Maschinen verleiht, und der dann als Superheld mit dem Namen – festhalten – "The Great Machine" New York beschützt. Wie in vielen anderen zeitgenössischen Texten ist die Welt von Ex Machina betont nah an unserer Realität, in der Mitchell der einzige Superheld ist, und er hat auch nur einen Superschurken als Gegner, dessen Kraft ihn mit Tieren kommunizieren lässt. Wer jetzt denkt, dass das ziemlich offensichtliche, platte Metaphern sind, hat völlig recht. Ex Machina nimmt das aber nur als Aufhänger. Der eigentliche Knüller ist, dass Mitchell seine Kräfte kurz vor 9/11 bekommt und zwar einen der Türme des World Trade Centers retten kann, sich als Superheld aber dennoch völlig nutzlos empfindet. Also macht er seine Identität öffentlich, kandidiert als Bürgermeister und wird tatsächlich gewählt. Die Serie erzählt von den vier Jahren Mitchells im Amt, von seinem Jahr als Superheld, von seiner Kindheit, von amerikanischer Realpolitik, dem Vatikan und M-Theorie, und das alles gleichzeitig, oft auf drei Zeitebenen in einem einzelnen Heft.

Vaughan hat ein paar Lieblingsthemen, die auch hier zentral sind, allen voran Geschlechterpolitik, Umweltschutz und Generationenkonflikt, doch er schafft es, nie darüber zu dozieren. Seine Dialoge sind naturalistisch bis an die Grenze der Unverständlichkeit (und nicht, wie Brian Azzarellos, weit darüber hinaus), und all seine Figuren haben Humor und sind sympathisch. Mitchell ist ein Nerd, der ungewollt ins Rampenlicht katapultiert wird und dem jeden Tag seine Grenzen vor Augen geführt werden, der aber ebenso sehr daran glaubt, dass politische Verantwortung darin besteht, selbst zu handeln. Die fünfzig Bände von Ex Machina zu lesen ist, wie einem guten Jongleur zuzusehen, der unglaublich viele Bälle gleichzeitig in der Luft hält. Gegen Ende verpasst er den ein oder anderen, aber das schmälert seine Leistung nicht. Vaughan schafft es, die Vielfalt und das Chaos der Realität in einer Geschichte zu verpacken, die sich wie von selbst liest, obwohl sie vor Symbolik und Denkanstößen nur so überfließt. Das hat sehr viel mit der Schönheit von Tony Harris' Zeichnungen und den großartigen Farben JD Mettlers zu tun, die selbst die groteskesten Figuren und Ereignisse in Bilder pressen, die die Eleganz Alfons Muchas und das Überirdische von Kirchenfenstern haben. Die Spannung zwischen der Handlung und der Art, wie sie visualisiert wird, gibt dem ohnehin schon dichten Comic den letzten Schliff, die letzte Ebene eine ungeheuren Komplexität, die sich selbst in guten Comics so nur selten findet.

Ob das Ergebnis perfekt ist, weiß ich nicht, aber wer das erste Heft von  Ex Machina liest und danach nicht mehr von diesem Autor und seinem Zeichner sehen will, hat kein Gespür für Comics. Ich erwarte jedenfalls großes von den beiden.

Platz 3


Mark Waid/Alex Ross: Kingdom Come (DC, 1996)

Nachdem Frank Miller die mythologische Dimension der Superhelden völlig demontiert hatte, war es selbstverständlich nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Herausforderung aufnehmen würde, wieder von einem Pantheon zu erzählen, ohne Schönfärberei zu betreiben. Waid und Ross wählen als Metapher ein biblisches Weltende – die Johannesoffenbarung wird gleich zu Anfang lang und breit zitiert. Sie erzählen jedoch nur scheinbar vom letzten Gefecht von Gut und Böse, und die ganze metaphysische Frage bleibt ein bisschen vage, weil wir zwar einen Priester als Hauptfigur haben und Glaube eine große Rolle spielt, das eigentliche Geschehen von Kingdom Come aber nicht in jüdisch-christlichen Traditionen steht. Vergebung und Nächstenliebe bilden den Schlusspunkt, aber dazwischen ist Götterdämmerung und Titanenschlacht angesagt. Kingdom Come ist – vorsicht, jetzt wird's vollmundig – nichts weniger als die Ilias des 20. Jahrhunderts.

Homers Epen – selbst in der Petersen-Variante mit Brad Pitt – handeln von kleinen, gewöhnlichen menschlichen Schwächen, die unvorstellbare Ereignisse in Gang setzen. Die epische Größe resultiert, wie im antiken Drama, zum einen aus der 'Fallhöhe' – dem dämlichen Fehler, der noch dämlicher ist, wenn ihn ein Halbgott oder König begeht statt eines Bauern –, zum anderen aus den Auswirkungen. Die Ilias erzählt von nichts anderem als dem Ersten Weltkrieg der griechischen Kultur: Alle Völker kommen zusammen und all ihre Heroen, und auch wenn es Verantwortliche gibt, die moralisch fragwürdig sind, treffen nicht Gut und Böse aufeinander, sondern große Helden, die mehr oder minder zufällig auf unterschiedlichen Seiten stehen. Das größte Problem, das wie heute mit dem Verständnis dieser antiken Epen haben, ist unser mangelndes Wissen um die antike Welt, vor allem aber um ihre Mythen, wie sie vorher existierten. Auch Homer bricht mit Traditionen, verändert überlieferte Figuren, nimmt sich Freiheiten, um eine großartige Geschichte zu erzählen, nur können wir das heute nicht mehr wirklich beurteilen, weil große Teile unseres Wissens um die antike Mythologie aus seinen Texten kommen. Das ist ein bisschen, als würde man in dreitausend Jahren Superhelden anhand von The Dark Knight Returns verstehen wollen ...

Kingdom Come erzählt von dem Aufeinandertreffen der ganz Großen wegen eines Streits, in dem es keine richtige und falsche Position geben kann, in dem sich beide Seiten in ihren Positionen verrannt haben und nicht das Gesicht verlieren wollen, in dem trotz aller Intrigen die Entscheidung von einem unschuldigen Menschen abhängt. Noch mehr als in Marvels wendet sich Alex Ross von den ästhetischen Traditionen des Superheldengenres ab. Seine Panels sind Gemälde von apokalyptischer Schönheit, und seine Figuren entsprechen bewusst nicht den Schönheitsidealen unserer Zeit. Superman und Captain Marvel sehen aus wie Bodybuilder aus den Fünfzigern, und das stellt mit unseren Synapsen ganz großartige Dinge an, wenn Superman wie ein italienischer Kraftmaxe als Sandalenfilm-Herkules aussieht. Ross versucht gar nicht erst, ein Bild für tatsächliche Titanen zu finden, sondern greift für seine modernen Halbgötter auf unser modernes Bildgedächtnis zurück. Und das, ohne die Essenz des Comicbilds zu ignorieren, wenn er bereits auf dem Titelbild über die Symbole der zwei zentralen Kontrahenten alles sagt. Supermans Selbstzweifel kommen in seinem geschwärzten Brustschild ebenso zum Ausdruck, wie Billy Batsons Reinheit im strahlenden Gold seines Blitzes. Und dahinter treffen sie alle aufeinander, die erste, zweite und dritte Reihe von DCs Superhelden, und als wäre das nicht genug, noch zwei, drei Dutzend neuer, postmoderner Helden und Schurken, deren Geschichten wir zumindest teilweise kennen, so wie ihre Verhältnisse, ihre Hintergründe, ihre Motivationen. Ein bisschen so, als würden wir dem antiken Sänger zuhören, der uns von den Halbgöttern und Königen erzählt, deren Geschichten wir zu kennen glauben.

Episch eben.

Platz 2


Brad Meltzer/Rags Morales: Identity Crisis (DC, 2004)

Über Identity Crisis kann man nur schwer etwas schlechtes sagen. Vielleicht – vielleicht, weil ich nicht weiß, ob es überhaupt etwas schlechtes ist –, dass dieser Comic von einem Romancier geschrieben ist und deshalb vielleicht auch ohne Bilder ebenso gut funktionieren würde. Aber das ist pure Spekulation, die zu weiten Teilen daher rühren dürfte, dass Meltzers Geschichte keine außergewöhnliche Optik braucht, um zu zeigen, dass das hier anders und besonders ist. Rags Morales hat den Mut, in seinem ersten richtig großen Projekt trotz der Anti-Superheldenstory, die es erzählt, einen ganz klassischen Stil zu wählen. Die ersten paar Seiten sind trügerisch konventionell. Die farbigen Textkästen irritieren ein wenig, aber ansonsten könnte man anfangs denken, einen beliebigen zeitgenössischen Superheldencomic zu lesen, so elegant, stilisiert und glatt sind Morales' Panels. Es dauert eine Weile, bis man merkt, wie Meltzer mehrere Stimmen überlagern lässt, wie er seine eigene Erzählung gleich auf der ersten Seite kommentiert, wie clever er einen Ton aufrechterhält, der ein ganz klein wenig verstört, ohne dass wir wüsste, warum, oder vielleicht auch nur merken, dass dem so ist.

Dann kommt der Schlag in die Magengrube, wenn Ralph Dibny – ein klassischer DC-Held aus der zweiten Reihe – seine ermordete Ehefrau zu Hause findet, die ihm gerade von ihrer Schwangerschaft erzählen wollte. Es ist eine Sache, wenn uns mit Spawn oder dem Ghost Rider verkokelte, untote Dämonen in Superheldencomics präsentiert werden, aber die verbrannte Leiche einer der nettesten, harmlosesten "Spielerfrauen" in der Geschichte des Genres ist etwas völlig anderes. Gewalt, die sonst merkwürdig ohne Konsequenz bleibt, wird in ihren fürchterlichen emotionalen Auswirkungen in den Vordergrund gerückt. Nicht nur leidet Ralph Dibny wie ein Hund – und zu sehen, wie er beim Begräbnis seiner Frau die Kontrolle verliert, gehört zum berührendsten, was je in Comics gezeichnet worden ist –, die ganze Superheldengemeinschaft verliert die Fassung. Plötzlich gehört Batman zu den rationalsten und gefasstesten, während alle um ihn herum nach Rache schreien und ganz bewusst von Justiz zur Selbstjustiz übergehen.

Hätte Identity Crisis nicht mehr zu bieten, wäre es schon ein großartiger Comic. Doch eigentlich fängt die Geschichte erst hier richtig an, und Meltzer wendet an, was er bei Alan Moores Miracleman gelernt hat: von einem logischen Bruch ausgehend das ganze Genre zu dekonstruieren und dabei neu zu definieren. Er schaut sich das kollektive Kostüm aller Superhelden an, fasst einen kleinen hervorstehenden Faden ins Auge, greift sich das Lose Ende ganz zart und ribbelt vor unseren Augen das ganze Gewebe auf. Fast alle anderen Comics, die mit den Superhelden hart ins Gericht gehen, stellen sie an den Pranger und fragen uns: Sind diese Halbgötter tatsächlich besser als wir? Sind sie auch nur gut? Meltzer nimmt andere Fragen auf, die schon seit Stan Lee Superhelden umgetrieben haben, vor allem die Angst vor den Auswirkungen auf geliebte Menschen, wenn man eine gewagte Position bezieht. Doch wo Peter Parker es irgendwie noch schafft, moralisch integer zu bleiben, während er seine Tante May vor Doc Ock beschützt, fragt uns Meltzer auf den Kopf zu, wo unsere Moral bleibt, wenn wir unter Druck, in einem einzigen, entscheidenden Moment, über den Schutz unserer Familie entscheiden müssen.  

Identity Crisis bringt das Kunststück zustande, Superhelden ihre Menschlichkeit zurückzugeben, ohne sie damit zu verklären. In ihren schwächsten Momenten sind sie nicht besser als wir, und vielleicht ist das alles, was zählt: sie treffen Entscheidungen wie wir, und wenn sie zwischen zwei falschen Entscheidungen zu wählen haben, müssen sie sich trotzdem entscheiden – genau wie wir. Sie sollten besser sein, weil sie manchmal stärker sind, können es aber nicht, weil sie immer genauso schwach sind wie wir. Emotional wahrer ist wahrscheinlich kein anderer Superheldencomic je gewesen.

Platz 1


Alan Moore/Dave Gibbons: Watchmen (DC, 1986)


Keine Überraschung, nehme ich an, nachdem ich schon ein Buch darüber geschrieben habe. Eigentlich haben Moore und Gibbons in Watchmen alles mit dem Thema gemacht, was möglich ist. Was Geschlossenheit, Perfektion und Kunstfertigkeit angeht, ist Watchmen nichts weniger als der Gipfel der Comickunst – vielleicht nicht der beste Comic aller Zeiten, aber mit absoluter Sicherheit unter den Top Ten, falls sich irgendwer an so eine Liste herantraut. (Und nein, ich will nicht wissen, wie viele Autoren diese Liste schon verbrochen haben. Und erst recht nicht, was in ihnen steht.)

Die anderen Titel in dieser Liste führen alle ein oder zwei der Themen weiter aus, die Moore und Gibbons hier entworfen haben, oder sie sind – im Fall von Moores eigenem Miracleman – eine Vorstudie. Das macht sie häufig radikaler und auf ihre Art überzeugender, aber zehn Minuten mit Watchmen, und das ist alles wieder vergessen. Sicher muss man sich darauf einlassen, und man muss vielleicht auch ein Kind der Achtziger sein, um die Glätte und Kälte von Geschichte und Grafik wirklich zu goutieren es ist sicherlich das Comic-Äquivalent zu einem Kraftwerk-Album. Wenn The Dark Knight Returns die Potentiale der Hässlichkeit ausgelotet hat, ist Watchmen ins andere Extrem getrieben. Aber wie Peter Lorre und John Gieldgud oder – für die nicht-Hitchcockianer unter uns –  Paul Giamatti und Thomas Hayden Church gehören sie zusammen und ergeben nur gemeinsam ein Bild (wenn auch immer noch kein schönes).

Dennoch: Watchmen ist das Buch für die Insel. Wenn ich drei Bücher mitnehmen dürfte, würde ich wahrscheinlich noch Ulysses einstecken und den Gutschein für Buch drei dem nächsten prospektiven Gestrandeten überlassen.

Noch zweitausend Jahre intensive Lektüre, und ich habe vielleicht verstanden, worum es in beiden geht.

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