Dienstag, 12. März 2013

Frühling ist Ansichtssache

Für die einen ist es die Klimakatastrophe, für andere der dänischste Frühling der Welt.

Als ich heute auf der Tagesschau-Website von dem zweiten (dritten? vierten?) Wintereinbruch in Deutschland und Frankreich gelesen habe, ist mir regelrecht warm ums Herz geworden. Oder zumindest auf der Haut, weil wir nämlich den ganzen Tag pralle Sonne im Büro hatten. Mein neuer Bürogenosse Rune hat den Nachmittag auf der Fensterbank im Sonnenschein lesend verbracht, wie ein einsneunzig großer roter Kater – vielleicht hat er sich auch genau deswegen einen ganz abscheulichen Freddy-Mercury-Schnurrbart stehen lassen, wer weiß.

Mit dem Gedanken an einen eingefrorenen Frankfurter Flughafen, den halb stillgelegten Metrobetrieb in Paris und die erwartungsgemäß damit einhergehenden zwei Stunden Durchschnittsverspätung bei der Deutschen Bahn habe ich mich dann im strahlenden Sonnenschein auf den Fußweg zurück von der Arbeit gemacht. Und dabei ganz hundserbärmlich gefroren, denn es sind zwischen -8 und -2 Grad, bei steifem bis stürmischem Wind von Nordost.

Die Dänen erzählen mir trotzdem die ganze Zeit, wie toll es ist, dass wir jetzt Frühling haben. Der lokale Gradmesser dafür ist wahrscheinlich, dass es wieder hell genug ist, um zu sehen, dass die Kanäle zugefroren sind. Ich verstehe ja nicht nur, dass nach wochenlanger Dunkelheit und Schnee jedes bisschen Sonne direkt Hektoliter Endorphine freisetzt, sondern erlebe es am eigenen Leib. Wie der Einheimische darauf reagiert, ist jedoch etwas überzogen. Ich spreche dabei nicht von den vereinzelten Spinnern, die sofort die kurzen Hosen auspacken sobald Ihnen der Atem nicht mehr im Bart gefriert, sondern von umfassenderen Verhaltensmustern. 

Am ersten März-Wochenende ist die Sonne hier zum ersten Mal rausgekommen, und Mitte der Woche waren wortwörtlich alle krank. Ich dachte zuerst, es wäre eine unaufhaltsame Grippeepidemie, bis mir heute einer meiner hiesigen Studenten erklärt hat, dass das die Frühjahrsanfangs-Erkältung ist. Sobald man wieder blauen Himmel sehen kann, rennt alle Welt direkt im T-Shirt durch die Stadt, weil sich jeder von seinem Weihnachtsgeld neue Tattoos hat stechen lassen und sie herzeigen muss. Vielleicht hat er ein bisschen übertrieben, aber nachdem die Stadt eine Rekonvaleszenz-Woche in Daunenjacken verbracht hat, war heute wieder einiges an tintengetränkter Haut zu sehen – drinnen wie draußen.

Aber ganz unironisch muss ich schon zugeben, dass die Stadt mit ein bisschen Sonnenlicht noch viel freundlicher und schöner ist. Und in ein paar der verwinkelten Ecken ist der Wind sogar derart erträglich, dass es sich nur anfühlt, als würde man im Gesicht mit einer Käsereibe traktiert. Da juckt es den kleinen Fotografen doch direkt in den Fingern, und das Handy darf ein bisschen vor sich hin knipsen. Da die verwinkelten Ecken um den Bahnhof herum gleichzeitig auch der Rotlichtdistrikt sind, gibt der Touri-Nummer einen leicht prekären Beigeschmack. Beim Versuch, fürs Bildermachen nicht direkt vor einer Bordelltür anzuhalten, bin ich prompt in meinen ersten Kopenhagener Kleindealer reingestolpert. Mit entschlossenem Gesicht betont in die andere Richtung gucken scheint aber ein recht internationaler Code für "ich hab nichts gesehen und gehe jetzt ganz zügig weiter, danke der Nachfrage" zu sein.

Immerhin weiß ich jetzt, dass es hier tatsächlich auch Kriminalität gibt. Bislang war ich fast schon davon ausgegangen, dass man das nur den Ausländern erzählt, damit sie hier nicht übermütig werden. Abgesehen von derartigen Erlebnissen ist ein Spaziergang durch Kopenhagens Westend aber ein einziger Kopfschüttler. Hier haben die Spielplätze ihre eigene Stadtmauer, und Kirchtürme gibt es in jeder nur erdenklichen Geschmacksrichtung, vom goldenen Zwiebelturm über Backsteingotik bis hin zu toskanischer Romanik. Was freu ich mich schon darauf, meine richtige Kamera auf diese Architektur loszulassen!

Vielleicht ist das auch der Grund, warum die hier Lego erfunden haben: damit sie sich architektonisch nicht immer im Maßstab 1:1 austoben müssen. Zuzutrauen wäre es ihnen. Wer bei Minusgraden den Frühling ausruft, hat jedenfalls eine ganz eigene Weltsicht – wahrscheinlich aber nicht die schlechteste! Es gehört auf jeden Fall schon eine Menge Lebensbejahung dazu, bei diesem Wind freiwillig vor die Tür zu gehen. Und eine stabile Blase. Aber das ist eine andere Geschichte ...



Nachtrag

So sieht es übrigens am Morgen nach dem endgültigen, richtigen Frühlingsanfang gestern hier aus. Ich kann es nicht erwarten, meine dänischen Kollegen darauf anzusprechen. Wo hatte ich bloß meine Winterklamotten hingepackt?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen